Erstaunlicherweise schwimmt außer ihm fast niemand. Dabei sehen die blauschillernden Quallen doch recht gut aus und geben dem Wasser einen angenehmen Kontrast. Das ganze Meer ist nur so voll von Quallen, jedenfalls unterhalb der normalen Schwimmtiefe. Man könnte sich schon fragen, was die alle hier wollen, so unmittelbar in Strandnähe und in so großer Zahl. Wie die wohl schmecken?
Nach einer Weile taucht eine große Flosse neben ihm auf und ein grüngrauer Hai schwimmt neugierig neben ihm her. Jedenfalls könnten die scharfen Zähne Neugier bedeuten. Nun, er war ja auf die Haie hingewiesen worden.
Auch das noch ... zum Glück hat er sich nahe am Ufer gehalten. Er tastet mit den Füßen nach dem Sand und watet rückwärts in Richtung Strand, wobei er den Hai nicht aus den Augen lässt. Er ärgert sich fast mehr als dass er erschrickt, weil ihm scheinbar jedes noch so winzige Bisschen Freude verdorben wird, aber Muffensausen hat er freilich trotzdem. Bei einem Hai dieser Größe kann man das wohl kaum jemandem verübeln.
Wasser: Dann fällt ihm ein, dass es genau zwei Arten von Haien gibt, die Menschen angreifen. Und dieser gehört nicht dazu. Sonst hätte man ihn sicher mehr gewarnt.
Von derartigen Einteilung, die nur auf Statistiken, aber nicht auf evolutionsbiologischen Faktoren beruhen, hält Danyal nicht das Geringste. Selbst planktonfressende Wale, theoretisch harmlos, verschlucken in der Praxis auch regelmäßig großes Getier, das sie genussvoll einbehalten. Erst recht ist jeder ausreichend große Hai potenziell gefährlich, ganz gleich, was irgendwelche Bürohengste definieren, die noch nie erlebt haben, wozu so ein Tier fähig ist, und wie vollkommen nutzlos der vielgepriesene Schlag auf Kiemen und Nasenspitze sich ausmacht, wenn ein Hai, der entschlossen ist zu töten, selbst Paddel- und Harpunenstöße in diese Regionen ignoriert, als hätten sie nicht stattgefunden.
Danyal, vielleicht gerade, weil er Fische so mag und sich viel mit ihnen beschäftigt, hält nichts von der städtischen Weichspülmentalität, die ausgerechnet im Hai, dem vielleicht erfolgreichsten Großraubtier aller Zeiten, ein missverstandenes, harmloses Kuscheltier sieht.
Folgerichtig watet Danyal rückwärts an den Strand, den Hai immer im Blick, und kehrt miesgelaunt zu seinem Gepäck zurück.
So bemerkt er erst später mit dem Platschen als die Zwillinge an ihm vorbeistürmen und laut etwas von einem "Westlichen Grünhai" schwärmen. Der Hai indes nimmt bei soviel Disharmonie reißaus noch bevor sie ihn überhaupt erreichen, sehr zum Frust der jungen Männer. Am Strand findet sich Danyal derweil einer Horde ebenfalls frustrierter junger Mädchen gegenüber, welche wohl den Urlaubsflirt auf nicht letale Weise an einen Hai verloren haben und nun Danyals Physik neugierig betrachten und hüftschwingend übertrieben ihn einzukreisen suchen.
Das ist zwar schmeichelhaft, aber Danyal leidet trotzdem. Über seinen Liebeskummer ist er immer noch nicht hinweg und er ist niemand, der sich auf die Schnelle mit wildfremden Personen trösten kann. Er braucht tiefe Vertrautheit oder - wie es nur selten geschieht - ein besonders hohes Maß an spontaner Sympathie, wie er es bei Thar verspürte, den er entsetzlich vermisst.
Aber er möchte die Mädchen auch nicht mit einer gemeinen Bemerkung vor den Kopf stoßen, nur um sie loszuwerden. Hätte er nur wenigstens Tiam an seiner Seite. Der würde die Mädchen entweder durch sein lüsternes Grinsen in die Flucht schlagen oder ihnen genau das geben, was sie anscheinend von dem unglücklichen Danyal wollen.
Da Tiam jedoch nicht da ist und die Zwillinge ihm anscheinend auch nicht zu Hilfe springen können, versucht Danyal, normal dreinzuschauen und durch eine Lücke zu gehen.
Während er nach dem Ausweg sucht, kommen zwei sichtlich enttäuschte junge Männer an den Strand. Den Mädchen schenken sie nicht einen Blick mehr, dafür haben sie es ganz auf Danyal abgesehen, wir er so der Traube an heißblütigen Damen entkommen will.
Hey Danyal, magst du nicht mal wieder mit ins Meer kommen? Vielleicht kommt der Hai dann nochmal. Dann können wir den gemeinsam streicheln!
Eine der jungen Frauen, bebrillt und mit einer ungünstigen zerzausten Frisur fährt zu einer Dicken neben ihr herum und funkelt sie an.
"Na toll, Taya, wieso kommst du immer an die Schwulen und Schrägen?"
Wonach sich der Großteil der Frauen zum Gehen wendet.
Die Rettung nimmt Danyal dankbar an und flüchtet in Richtung der beiden Männer. Man sieht ihn sogar kurz erleichtert lächeln.
Danke, ihr habt was gut bei mir! Aber den Hai streichelt ihr besser ohne mich. Bei meinem Pech würde mich sogar ein Planktonfresser als Leckerbissen betrachten.
Verstehe.
Da packen sie ihn schon an Schultern und Füßen und schleppen ihn raus zum Meer, wobei sie ulkig übertrieben rufen:
Oh großer orceanischer Grünrückenhai, nimm unser ergebenes Opfer an, auf dass wir deine Flossen berühren können!
Ihr Griff ist überraschend, aber nicht fest, so dass sich Danyal leicht entwinden könnte, wenn er das wollte. Und das Ganze ist hochgradig kindisch.
Da Danyal wirklich Angst vor dem Hai hat, findet er das nicht witzig und verdreht sich, so dass er ihren Händen entflutscht. Dabei zieht er ein äußerst besorgtes Gesicht, was nicht im geringsten zur verspielten Art der Zwillinge passt.
Das ist nicht witzig!
Wahrscheinlich hat Danyal selbst als Kind nur still in seiner Ecke gesessen und artig Bausteine gestapelt. Er rappelt sich wieder auf, mit gerunzelter Stirn in Richtung Wasser schauend.
Gibt es hier auch einen Strand ohne menschenfressende Raubtiere und lüsterne Personen? Vielleicht sollte ich doch besser beim Schwimmbad in unserer Unterkunft bleiben ...
Oh, tut uns Leid. Aber der frisst keine Menschen, der bekommt vielleicht maximal einen Finger runter, aber selbst den würde er eher verschmähen, weil er ihn nicht verdauen kann. Menschen schmecken widerlich für diesen Hai, der frisst eher Kleinfische und aus einem seltsamen Grund diese Quallen. He, warum sind hier soviele Quallen? Wir sollten machen, dass wir hier wegkommen, die sind giftig!
Damit sind die Zwillinge auch schon wieder am Platschen in die andere Richtung.
Danyal versucht mit ihnen Schritt zu halten, nur dass er tunlichst an Land bleibt und nicht einmal den großen Zeh noch in dieses Wasser setzt.
Ihr habt meine Frage nicht beantwortet! Ich suche einen langweiligen spießigen Strand ohne Abenteuer jedweder Art! Gibt es hier so was nicht?
Also unser Leben ist uns wichtiger als gleich Fragen zu beantworten. Ist es beim Militär üblich, erstmal mitten in einer Gefahrensituation alle möglichen Fragen zu beantworten, bevor man die eigene Sicherheit gewährleistet? Und die Frage ist zudem ziemlich unfair. Es gibt Umstände, die niemand vorhersehen kann und wir können wohl kaum garantieren, dass jeder einzelne Strand die Bedingungen hundetprozentig erfüllt. Ich bin aber sicher, dass es einen solchen Strand gibt. Hier jedoch wohl gerade nicht.
Kaum haben sie das Wasser verlassen, setzen sich die beiden in Richtung ihrer Sachen in Bewegung.
Für Danyal ist logisch, dass die Zwillinge dann hatten antworten sollen, wenn es für sie möglich gewesen war, und dass ist inzwischen wohl der Fall. Er geht mit ihnen mit.
Wenn ihr keinen geeigneten Strand empfehlen könnt, dann gehe ich wohl besser zurück. Hier ist es mir zu stressig und wahrscheinlich störe ich euch nur bei euren Eroberungen.
Wir kommen mit. Das ist doch so auch sinnlos. Vielleicht kann man uns im Haus einen besseren Strand empfehlen. Und die Mädels waren eher anstrengend als interessant. Deswegen war der Hai auch besser. Wir haben halt das Meer hier ausprobiert, aber die Götter waren uns dabei wohl nicht gesonnen. Woanders haben wir vielleicht mehr Glück.
Sie beginnen damit, das Gepäck zusammenzuräumen.
Vielleicht sollten wir zumindest einen Teil der Vorräte verzehren. Dann müssen wir nicht alles auf dem Rücken wieder mitschleppen.
Hm, gute Idee!
Essen ist sowieso immer gut. Außerdem freut er sich, dass die Zwillinge entgegen seiner Vermutung doch mitkommen wollen. Während sie aufräumen, macht er sich daran, Essen und Getränke auszupacken und gerecht zu verteilen, sobald die Hände wieder frei sind.
Ich weiß nicht, ob ihr darüber reden wollt ... aber nach meinen Beobachtungen werden Menschen allgemein sehr schnell langweilig, wenn man sie wie einen Schnellimbiss konsumiert. Bald reizt einen nichts und niemand mehr. Dann muss man zu komischen Experimenten übergehen, um noch die alte Aufregung zu spüren, und irgendwann fühlt man gar nichts mehr.
Er hofft, dass sein Gesprächsangebot nicht wie eine neunmalkluge Belehrung klingt, denn er möchte den beiden eigentlich nur eine weitere Sicht zum Nachdenken anbieten. Die Zwillinge sind so jung und wirken teilweise so kindlich und unbedarft, dass er sich ein bisschen um sie sorgt.
Das widerspricht dem, was unser Vater erklärt hat, doch ziemlich. Seiner Ansicht nach werden die Menschen umso interessanter und individueller, je älter man wird und umso mehr Erfahrungen man sammelt. Letztendlich sind aber alle verschieden. Die einen so, die anderen so. Wir haben uns vor einiger Zeit gedacht: He, es gibt ein Buffet, dann kann man sich daran doch eigentlich auch bedienen. Solange kein Zwang vorherrscht, kommt doch jeder auf seine Kosten.
Einer von beiden greift nach dem Wasser, der andere nach etwas zu knabbern. Dann sind die beiden mit der Mahlzeit beschäftigt und sehen nicht so aus, als würden sie über Danyals Worte auch nur ein bißchen nachdenken.
Danyal denkt kurz darüber nach, wird jedoch von einem Gedankenbild des grinsenden Tiams verschreckt, der mit Mitte zwanzig schon alles getestet hat und die Abstumpfung inzwischen mit chronischer Unzufriedenheit und Langeweile bezahlt, gegen die auch dubiose Spielarten oder Drogen kaum noch helfen. Beziehungstauglich ist er jedenfalls nicht mehr.
Danyal tut die Vorstellung weh, dass die Zwillinge in ein paar Jahren am gleichen Punkt angelangen könnten, auch wenn es vielleicht Unsinn ist. Am Ende geht es ihn ja eigentlich gar nichts an, wie andere Leute ihr Leben gestalten.
Nun ja ... vielleicht ist das bei jedem anders,
sagt er versöhnlich, ehe er in seine Zwischenmahlzeit beißt. Er hofft, dass dem wirklich so ist. Nachdem er heruntergeschluckt hat, fügt er noch hinzu:
Ich hätte gern jemanden, der mich nicht nur als Leckerbissen auf einem Buffet betrachtet.
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