Im Schatten des Gebirges, am Rand der banabischen Hochebene liegt die Heilige Stadt Timor, einst Hauptstadt und Mittelpunkt des Futunischen Großreiches, Sitz der Regierung und des Ashantir. Vor mehr als eintausend Jahren wirkte es fast so als wäre ihre Zeit abgelaufen, entvölkert durch Hunger und Seuchen, entkräftet durch Krieg und Verluste, nun nicht mehr Hauptstadt und scheinbar verdammt als Fußnote der Geschichte zu enden, vor allem da das gesamte Reich vor dem Zusammenbruch stand. Doch weder war die Zeit gekommen, der futunischen Zivilisation ein Ende zu setzen, noch war Timor zum Abstieg in die Bedeutungslosigkeit verdammt.
Während der Rest der Futunischen Reiche sich in freiwillige Zersplitterung begab, hielten die Banaben zusammen und an ihrer Einheit und ihren Herrschern fest. Die Phönixdynastie verpflichtete sich und ihr kleines Kernreich dem Feuer, der Ehre und der Ordnung und so machten sich die Banaben und ihre Prinzen ans Planen. Da wo Persuna ungezügelte in ein chaotisches Spiegelbild der Futunischen Reiche mit Dutzenden Bezirken zerfiel und unregierbar für die Zentralgewalt wurde, wo Goman mehr als Aushängeschild und Leinwand für die Mahdia herhielt und wo Mehita in seinem Reichtum und seiner Reputation protzte, begann Timor den langsamen Wiederaufstieg, plante neue Stadtviertel und Modernisierungen präzise, importierte das beste Material und die geeigneten Handwerker, um die Stadt zwischen Fluss, Hochebene und Berg in ihrem Charakter nicht zu zerstören und die Einheit nach außen und innen zu wahren. Die Heilige Stadt Timor ist die zweitgrößte Stadt der Futunischen Reiche, nicht so reich wie Mehita, nicht so chancenbietend wie Persuna, nicht so protzig wie Goman und nicht so lässig wie Tabar, aber dennoch ein Symbol. Der erste Eindruck für die Besucher sind die sauberen Steinwege, die gepflegten Gärten, die allem innewohnende Effizienz. Timor hat nicht das Bedürfnis, mit seinen Besonderheiten anzugeben, es ist einfach so besonders. Die Bewohner leben in bequemen Wohnungen, mit luftigen Parkanlagen, Seen und ruhigen Heimarbeitsplätzen, mit einem gut laufenden, aber auch wenig auffälligen öffentlichen Verkehrsnetz mit Seilbahnen, Zügen und Elektrobussen.
Im oberen Teil der Stadt findet sich der Palast des Weißen Kranichs, ein gewaltiger Komplex aus weißem Stein und Edelsteineinlagen, mit brennenden Feuerschalen und mehr Prunk als im Rest der Stadt zusammen. Doch hier werden Gäste aus aller Welt empfangen und Zeremonien auf höchster Ebene abgehalten, hier sitzen Regierung und auch Ashantir und viele hohe Mitglieder der Phönixdynastie. Der Palast ist zur Repräsentation, zur Inspiration und für Pilgerfahrten. Das Protokoll jedoch ist nicht ausufernd und nicht anmaßend. Es geht immer noch um Effizienz und Aufmerksamkeit, denn die Hegemonie mag sich zwar einen riesigen Beamtenapparat leisten, doch er ist auch oft nötig. Der Palast ist mehr Arbeitsgebiet als Residenz, auch wenn es Schreine und Gärten gibt, doch diese sind für alle Blutgeborenen. Im gesamten Palast findet sich kein Thron, wenn es um Begegnungen geht, die angemeldet sind, sitzt der Ashantir oder auch der Großwesir mit seinen Gästen in einer bequemen Sesselgruppe und sicher nicht auf einem erhöhten Sitz wie ihn die blinden Häuptlinge der Barbaren brauchen.
Hier in kleinen Halle, mit blauen Säulen und Wandgemälden, welche von der Arbeit von Hirsebauern am Galis erzählen, werden die Agenten empfangen. Sessel sind lose um Tische mit Obst, gefüllten Teigtaschen, Säften, Wasser, Tee, Schokolade und Suppen gruppiert. Über die Decke zieht sich eine Karte Futunas, ein feines Mosaik aus grün und braun, aus blau und gelb. Auf dem Boden liegen Teppiche, die Türen zu einem kleinen Garten sind offen, in einem Teich platschen große Schildkröten herum und der Haustapir sucht vergeblich nach Pflanzensamen im Gras.
Hierher werden die Agenten gebracht und hier warten sie auf ihren Einsatz. Es wurde ihnen Zeit gegeben, sich zu sammeln, zu entspannen und zu speisen, denn ihre zukünftige Leiterin ist noch beim Großwesir, in einer Besprechung, sie kommt also später. Es ist fast Mittag, doch die luftige Halle und der kleine schattige Garten halten die aufkommende tropische Schwüle gut ab.